Leben ist Bewegung – auch im Büro
- 22.03.2012
- Büromöbel
- red.
Es scheint paradox: Da wird seit 150 Jahren in der Ergonomie geforscht, um die körperlichen Belastungen für den Menschen immer weiter zu reduzieren. Da wird alles in Griffnähe angeordnet, da wird der Körper von korsettähnlichen Bürostühlen gestützt und da ist der Arbeitsplatz bequem auf einen ausreichend großen Bildschirm verdichtet. Statt Akten wälzen, Ordner schleppen und Botengängen ist nur noch die Bewegung der Finger zur Bedienung von Tastatur und Maus gefordert, um die Büroarbeit zu bewältigen. Man kann sich kaum eine bessere Anpassung der Arbeitsumgebung an den Menschen vorstellen. Und das Ergebnis? Die Menschen im Büro werden, wie es scheint, immer kränker. Das Zentrum für Gesundheit in Köln schätzt allein die Behandlungskosten für Rückenschmerzen auf 25 Milliarden Euro jährlich, hinzu kommen 15 Milliarden Euro Verlust für die Volkswirtschaft durch krankheitsbedingte Frühverrentungen. Und laut Krankenversicherungen sind es 3,37 Krankheitstage pro Jahr und Versichertem, was wiederum die Unternehmen je Mitarbeiter knapp 1000 Euro zusätzlich kostet – von dem Leid und den Belastungen für die Betroffenen ganz zu schweigen.
Muskulatur wichtigstes Stoffwechselorgan
Ingo Froböse, Spezialist für Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule Köln, weiß, warum die Entlastungsstrategien der Ergonomie im Büro zum Bumerang werden. Denn die biologische Konstitution des Menschen hat sich über die Jahrtausende nur marginal verändert. Sie ist von Natur aus auf Bewegung ausgelegt: Dabei ging es primär um das Laufen, um zu sammeln und zu jagen, um das Weglaufen, um nicht gefressen oder von konkurrierenden Horden getötet zu werden. Entsprechend funktioniert die Versorgung des „Traggerüsts“ vor allem durch Bewegung – wie etwa die Nährstoffversorgung in den Bandscheiben durch den ständigen Wechsel von Be- und Entlastung. Die dynamische Muskelarbeit fördert den Zellstoffwechsel, während statische Haltearbeit der Muskulatur zu Unterversorgung und dadurch zu Verspannungen und Schmerzen führt. Selbst in der „natürlichen“ Ruhestellung zum Schlafen wird instinktiv Bewegung praktiziert: 30 bis 50 Mal pro Nacht wechselt der Körper die Schlafposition. Ist das nicht mehr möglich, verkümmern die Zellen durch einseitigen Druck und Unterversorgung.
Das Zentrum für Gesundheit hat ermittelt, dass sich im Zuge von Computerisierung und Massenmobilität belebende, körperliche Aktivitäten heute im Durchschnitt auf gerade mal 25 Minuten pro Tag reduziert haben. Entstanden in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, die mit täglich zehn bis zwölf Stunden schwerer, körperlicher und oft einseitiger Arbeit verbunden war, ist die traditionelle Ergonomie aber noch immer darauf ausgelegt, den Körper zu entlasten. Daraus ist im Büro längst eine regelrechte körperliche Unterforderung geworden. Die fehlende Aktivierung der Muskulatur führt zu ihrer Rückbildung und dadurch zur Destabilisierung des gesamten Skelett- und Gelenkapparates. Bei einer großen Zahl der Rückenpatienten ist die Unterforderung durch Bewegungsmangel die Hauptursache der Beschwerden.
Das Märchen von der „richtigen“ Sitzhaltung
Wir alle haben gelernt, dass die aufrechte Sitzhaltung die „richtige“ und gesunde Sitzhaltung ist, eine Meinung, die noch heute in fast allen Ergonomie-Fibeln vertreten wird. In Wirklichkeit aber hat sie nichts mit Gesundheit zu tun, sondern mit den militärisch geprägten, sozialen Konventionen des 19. Jahrhunderts. Schüler wie auch Angestellte in den Bürosälen hatten in der „Hab-acht-Stellung“ „stramm“ zu sitzen. Das signalisierte Respekt und Achtung und erleichterte Lehrern wie Bürovorstehern die Disziplinierung. Biologisch betrachtet gilt dagegen jede Sitzhaltung, die der Körper schmerzfrei einnehmen kann, richtig und wichtig, um die Gelenkfunktionen zu erhalten und die Vielfalt der Muskeln zu stimulieren. Entscheidend ist nur, dass keine Haltung auf Dauer eingenommen wird, sondern möglichst viele Haltungswechsel für Bewegung sorgen. Auch die Behauptung, dass sich nur konzentrieren kann, wer sich nicht bewegt ist längst widerlegt: Langes Stillsitzen, egal in welcher Haltung, schaltet den gesamten Organismus ab. Das schwächt auch die mentale Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit.
Auch die Bürostuhlentwicklung folgte der Idee einer richtigen Sitzhaltung. Weil inzwischen unbestritten ist, dass Bewegungen das A und O für gesundes Sitzen sind, verfügen zwar fast alle hochwertigeren Bürostühle über Synchronmechaniken, die das Beugen und Strecken des Oberkörpers erlauben. Gleichzeitig aber werden im Sinne der „richtigen“ Sitzhaltung immer wieder neue, noch differenziertere und komplexere Ein-, Fest- und Verstellfunktionen entwickelt, um den Stuhl wie ein Korsett an den individuellen Körper anzupassen. Gerade dies aber nimmt die Bewegungsanreize und schwächt die Muskulatur, weil es den geforderten Haltungswechsel erschwert. Dieser grundsätzliche Widerspruch in der Stuhlkonzeption verhindert genau das, was eigentlich gefördert werden sollte, und dürfte einer der wesentlichen Gründe dafür sein, dass trotz immer „ergonomischerer“ Bürostühle die Rückenschmerzen im Büro oft zunehmen.
Neue Studien aus Australien und Schweden, zeigen, dass auch regelmäßiger Ausgleichssport nur bedingt hilft, wenn im Beruf der dauerhafte Bewegungsmangel dominiert. Denn es sind vor allem kleine und vielfältige Bewegungen, die häufig ausgeführt den Zellstoffwechsel stimulieren und den Körper fit halten. Auch das ein Argument für Veränderungen bei der Büroarbeit.